3.9.2024
Hier am Strand 

 

Alles liegt offen. Anders als in den Bergen, wo es den Aufstieg braucht, oft steil und holprig. Am Strand ist alles ganz ungezwungen und mühelos. Er ist Tal und Gipfel zugleich. Es gibt kein Oben, kein Unten, keine Hierarchie. 

Wer an den Strand kommt, tritt ins Offene hinein: Die See ist endlos, der blaugraue Himmel hoch oben ebenso, mehr ist hier nicht. Nichts und alles zugleich. Ein Glücksversprechen. Aber wer an den Strand geht, setzt sich auch dem Ungeschützten aus. Kein Schatten, kein Rückzug, nur Wind, Sand und Sonne. Der Strand dringt in ihn ein. Das muss man mögen und hinnehmen können. So wie der Strand selbst hinnimmt, dass er immerzu überrollt wird, von einem Meer, das nie müde wird, von tückischen Wellen, die tief aus dem Unbekannten der Ozeane heran-rollen. 

Es sind sommerliche Gedankengänge. Eine vierköpfige Familie gleitet mit ihren Fahrrädern bequem über den schmalen Saum, den das zurückweichende Meer freigelegt hat. Der Druck der Wassermassen hat den Boden verdichtet, der überspülte Sand ist so hart wie ein Spiegel. Die Ewigkeit aber ist weich. Wir nehmen eine Muschel mit nach Hause, dieses eigenwillige Zeugnis erschöpften Lebens. 



1.9.2024
Ein Glas Rotkraut

 

Die Menschen, die wir früher waren – stimmt – , sie treten in den Hintergrund. Manchmal blitzen sie wieder auf. Es ist dieses Alter, das gesetzt ist, aber der Blick zurück in die eigene Jugend ist noch scharf möglich. Nur ein Ort aber bleibt für immer der Ort, an dem einem das Leben geschenkt wurde, der Ort, an dem man die ersten Schritte getan hat, der Ort, an dem man sprechen gelernt hat. Automatencappuchino in Wartezeiten.

Die Strecke führt als geschwungene Linie durch das zersiedelte Sohlental. Das Bahnhofs-gebäude wird inzwischen privat genutzt. Im Vorgarten, hinter einer dichten Tujahecke, hängt am Wäscheständer der Sommer. Zur Bahnsteigseite ist am Haus in schwarzen Großbuchstaben der Stationsname zu lesen, darüber eine Fassadenmalerei: Eine Dampflokomotive zieht vier Waggons, der Personenzug fährt auf einen Bahnbeamten zu, der mit Pfeife im Mund und in steifer Körperhaltung ein grünes Signal in die Höhe hält. Die Sonne brennt auf den Bahnsteig. Da stehen auf dem Boden eine halbleere, etwas schmutzige Trinkschale Nescafé, darin ein Päckchen Zucker, und ein Glasaschenbecher mit der Werbeaufschrift Casino Kitzbühel. 

Auf einem dieser Scanneretiketten fällt ihm als Zahlenfolge sein Geburtstag ins Auge, auf einem Glas Rotkraut. Der Zug nimmt Fahrt auf, die Häuser weichen zurück. Die Landschaft dehnt sich immer weiträumiger aus – langsam ein Horizont. 



2.4.2024
Wagnerplatz 

 

Am Horizont tauchen Berge auf, gar nicht so hoch, mit Schneehauben, die man in wenigen Minuten zu erreichen meint. Die Festungen im Mittelland waren bereits bei ihrer Fertig-stellung, wenn nicht schon zuvor, überholt durch die inzwischen erfolgte Weiterentwicklung der Artillerie und der strategischen Konzepte, die der wachsenden Einsicht Rechnung trugen, dass alles sich in der Bewegung entscheidet und nicht im Stillstand. Die Schutzhüllen der alten Klassikplatten zeigen schöne Landschaften. Vor allem Sinfonien von Brahms, Beethoven… Durch die offene Türe des Ladens klingen Soundtracks aus alten Zeiten.

Gegenüber auf dem kleinen Platz dagegen herrscht eine bestimmte Stille – ganz so, als habe man die Zeit angehalten. Ein Randstreifen der kleinen Anlage wird zur Boulebahn. Als gebe es nichts anderes als das Spiel. Manchmal ist so eine Boulepartie physisch spürbar. Es ist ein Liebesakt mit einem sehr geheimnisvollen Liebhaber. Mit einem, den man sich nicht ausgesucht hat. Das ist ein überwältigendes Gefühl. Dann ist es vorbei. Alles hallt noch ein bisschen nach, so wie ein Fernsehfilm manchmal mit ein paar Bildern in Erinnerung bleibt. Es bleibt etwas haften. 

Drei Männer überqueren den kleinen quadratischen Platz. Ein geteertes Basketballfeld, Sitzbänke, Spielgeräte und Tischtennisplatten verstecken sich zwischen den Bäumen. Das Abendlicht fällt herein, eine falunrote Hausecke beginnt darin zu leuchten. Einer der Männer trägt einen schwarzledrigen Drehstuhl, der zweite einen Obstkarton, in dem sich kleine bunte Plastikbojen tummeln, die ihren Dienst an der französischen Atlantikküste getan haben. 



10.3.2024
Spuren des Südens 

Die Königin der Autobahnen.  … nach Südtirol. Direkt. Durchgehend. Bis kurz vor die Haustüre. So wird die Ferienautobahn über den Brenner in einer alten Zeitschrift beworben. Der Bogen eines gewaltigen Bauwerks spannt sich über die ganze Seite. Der Fotograf steht im Tal, sein steil nach oben gerichtetes Objektiv erhebt die Europabrücke zum Wahrzeichen. Die Perspektive macht sie zu einem Kunstwerk. Aus dem Hintergrund schimmern die schneebedeckten Gipfel des gleichförmigen Karwendelmassivs hervor. Die Landschaft unter dem wolkenlosen Himmel glänzt in einem fast künstlichen, makellosen Blau. Das Echo dieses azurblauen Meeres legt sich auch über die Betonpfeiler und  Tannenspitzen. In so einem heroischen Licht, so friedvoll, hat kein Reisender die Europabrücke je gesehen. So schön, dass man sich fragt, warum man sich überhaupt auf den Weg in den Süden machen soll. Man betrachtet das Meisterwerk in seiner Ästhetik, und doch weiß man, was damit einhergeht. 

Sie mag dieses Blau des Südens. Es ist eine wunderschöne Farbe. Sie erinnert sich an ihre Kindheit, an ein Sommerkleid, ihr Bedürfnis nach den vielen Facetten von Blau, welche die unendliche Freiheit widerspiegeln. Ohne zu verlangsamen, greift sie nach hinten auf die Rückbank. In der kurzen Zeitspanne zwischen dem Klingeln und dem Annehmen des Anrufs hat sie jedes Mal die gleiche Empfindung: eine Mischung aus Kontaktbedürfnis und einem Gefühl der Störung. Sie zieht das Telefon aus der Tasche, liest den Namen auf dem winzigen Display und drückt die OK-Taste. 



27.12.2023
Musterexemplar - A consulter sur place.

Die Brasserie Grand Pont hält eine breite Auswahl an Tageszeitungen und Zeitschriften bereit. Unter einem wandbreiten Gemälde im Gastraum ist der Satz zu lesen: JE SUIS UN HABITANT DES MONTAGNES MAGIQUES. Er betrachtet die sich aus dem Spitzer herausschälenden Bleistiftgirlanden. Sein Favorit ist der Härtegrad BB. Vor ihm liegt ein kleiner karierter Spiralblock. Orangefarben mit französischer Aufschrift. Ein leuchtend grüner Bleistiftstummel von Conté und ein Tribolo. Ein Liveticker-Nachmittag. 

Drüben auf der anderen Straßenseite, vor der edlen Boutique, steht eine junge Frau mit ihrem Eiswagen; sie führt eine Strichliste, wie oft jeweils ein, zwei oder drei Kugeln verkauft werden. Eine Kundin hat den Preis nicht verstanden. Vous m’avez dit?  Er liebt diese Momente stillschweigender Komplizenschaft. Er ist ein Sammler. Es geht um die Darstellung, nicht allein um die Wiedergabe des Geschehens, um die Verarbeitung der in der Erinnerung verhafteten Atmosphäre. Er liest von Kirchen, die sofort ein Raumgefühl geben. Einen Bericht über Alain Delon. Hört den Männern am Nebentisch zu, die vor einem Glas Wein sitzen und regelmäßig auflachen.

Als sie am Abend dahingehen, steckt er auf gewohnte Art seine Hände in die Taschen, und sie hängt sich ganz selbstverständlich mit ihrem linken Arm bei ihm ein. Sie gibt dem Bild eine Begierde. Ein übergangsloser Doppelmonat mit Gluthitze. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, ihre Hitze aber blieb bis zum Morgen. 

 


10.11.2023
Waldestiefe
 

Sie sind die letzten. Der Garten ist leer, die Lampions, farbige Papierfetzen, hängen ver-endet, triefend nass, an den Drähten, umgekippte Tische, vom Fichtenwald zieht Nebel herab. Der Geruch des feuchten Laubs, des Farns, des zerfallenen Holzes, der verrottenden Tannen-zapfen, des reichen, vom Tau glitschigen Teppichs aus abgefallenen Blättern und Nadeln schlägt einem vom Erdboden entgegen. Ein paar Schritte weiter ein Harzgeruch. In lauen Nächten riecht die Luft manchmal wie mit Fichtennadeln parfümiertes Badewasser. 

Sie gehen schließlich eine von Reihenhäusern begleitete Straße hinunter Richtung Siedlung. Im trüb herunter rieselnden Licht einer hoch oben baumelnden Straßenlampe stehen zwei Männer im Gespräch. Ihr Tag beginnt. Im Lichtkegel wabert der Nebeldunst, der sich morgens über das Gelände legt. Eine Pracht aus Schweigen. 

Kostbare Bilder, die auf den ersten Blick nicht zusammenzuhängen schienen. Sie finden Schutz in einem massiven Unterstand aus Holz, einem Wartehäuschen, das noch immer an der alten Haltestelle stand. Er hat sich immer empfunden als einer, der durchdrungen ist von dem, was war, und es weiterträgt. Sie ist es, die im Bus die Haltewunschtaste drückt. Über den kalten Asphaltplatz gehen sie nach Hause. Rot-weiße Plastikkegel zeigen die Verengung der Fahrbahn an. Auf die Straße dringen die üblichen Geräusche hinunter, stark gedämpft, fast erholsam. 



6.9.2023
Bad Kreuznach
 

Ein Eisvogel segelt über die Nahe, spiralisiert. Sein türkis-orangefarbene Gefieder glänzt im Sonnenlicht, lenkt den Blick schließlich auf einen Ast auf der anderen Uferseite. Knapp über der Wasseroberfläche landet er da im Verborgenen und lauert auf Beute. Immer wieder leuchtet kurz der Farbtupfer in diesem Zwischenzweiglicht. Dann verliert es sich. 

Die Spaziergänger finden in ihrem Promenieren und Durchstreifen des Kurparks ihren Rhyth-mus. Für ein paar Augenblicke auf dem kleinen Platz zwischen zwei Salinenwänden sitzen. Der Nachmittagswind fächelt den Soleschleier über die Stuhlreihen hinweg. 

Er fährt gern solche Strecken und hält sich dabei in einem Stadium zwischen unterschied-lichen, nicht leicht einzuordnenden Orten und Zeiten auf. Das Nummernschild verrät ihn als Fremden, gleichwohl der Wagen sich flüssig im Gewirr des Verkehrs bewegt. Oder auch das um-gekehrte Gefühl, völlig neuartige Blicke aus einem vor Ort zugelassenen Fahrzeug. Oft denkt er sogar, dass dies die Dimension ist, in der er sich am wohlsten fühlt: eine Gegen-wart, die die Vergangenheit rasch hinter sich lässt und sich auf eine immer wieder hinausgeschobene Zukunft hinbewegt. Der Wind wird stärker. Sich leicht biegenden Büsche, jetzt ein großer Tropfen auf Stirn und Hände, nach dem langen hochsommerlichen Gehen fast eine Liebkosung. Fürs erste immerhin kein richtiger Regen. In der Gegenrichtung unterwegs, einer Gegenrichtung nicht allein zu der seinigen – nein, zu sämtlichen. 



14.8.2023
Leogang – Hochfilzen 

 

Die Türen des Zuges öffnen sich. Willkommen in Leogang. Zwei drei Trompetenstöße. Dann betritt eine Gruppe junger Männer mit Lederhosen und gelbem Oberteil den Waggon. Einige davon haben ein Instrument dabei. Heitere Stimmung. Die Fahrt hinunter Richtung Inntal wird zu einem Konzert aus Ziehharmonika, Trompete, Posaune und kräftigen Männer-stimmen. Gute Freunde kann niemand trennen. Gute Freunde sind nie allein. Eine schöne Plötzlichkeit. 

Während dieser Musik ist er plötzlich ganz anwesend, ganz da. Alle Geräusche verschmelzen miteinander zu einem neuen Geschehen. Die Musiker sind ganz bei sich, ganz verschmolzen mit der Landschaft, mit ihren Liedern. Weil sie eines im Leben können. Für den andern da zu sein. 

Das kräftige Rot der Seilbahnkabine, nun auf der Talfahrt, hebt sich ab vom saftigen Grün der Hangwiesen und verschwindet schließlich hinter einem Tannenhügel. Felsmassive gleiten vorüber, niederwellige Grasbuckel und Heustadel. Alpenhotels. Ein Taucheranzug hängt an einer Wäscheleine, ein aufgeblasener Delfin schaut über eine Balkonbrüstung. Vielarmig schlängelt sich hellgrünes Wasser zwischen breiten, hellen Kiesbänken hindurch. 

Erst sind es schüchterne Zwischenspiele, die immer wieder verstummen, dann das Solo des Akkordeons. Die Mitfahrer werden aufmerksam. Applaus. Die Bahn schiebt sich als Vektor durch das Tiroler Tälernetz. Die Musik wird zu einer Art Zeit. Aber schön muss sie sein. 



18.6.2023 

Sie kommen schon 

 

Im Hinterhof ist eine große Wiese. Wäschegestelle, an denen kein Mensch etwas aufhängt. Auf dem asphaltierten Weg, der um die Grasfläche führt, stehen Mülltonnen und Container, die oft so sehr überquellen, dass die Deckel nicht richtig schließen. Papier liegt rundherum auf dem Boden. Bei den Wäschespinnen gibt es auch noch einen Sandkasten. Außerdem ein Klettergerüst, zwei Schaukeln und eine Wippe. Die Geräte sind verrostet und knirschen, wenn man sie benutzt. Aus dem Hof führt jeweils eine Türe durch die Kellerräu-me in jedes Wohnhaus. In einem Treppenhaus stimmt irgendetwas mit der Deckenlampe nicht, denn das Licht flackert andauernd. Ein Mann und eine Frau streiten sich. Ein kleinerer Junge ist von seinem Dreirad gefallen und weint. Wenn es geregnet hat und der hintere Teil des Hofes im Schatten liegt, riecht es hier nach feuchtem Asphalt. Aus offenen Kellerfens-tern wabern feuchte, muffige Schwaden. Ein älterer Mann im ersten Stock legt Vogelfutter auf die Fensterbank. 

Wenn im Frühling die ersten Duftveilchen auf der Wiese blühen, schwebt über ihnen stets das Porträt der Kaiserin Elisabeth von Österreich. Sissi liebte Veilchen, ihre Farbe, ihre Zartheit und vor allem ihren Duft. Der hässliche Schmied Hephaistos soll sich die schau-mige Aphrodite mit Hilfe von Veilchenduft zur Frau gemacht haben. Dichter überbieten sich mit Lobeshymnen auf den betörenden Duft der Bläulinge, Alexandre Dumas widmete dem Veilchen in seinem Dictionnaire einen dreiseitigen Eintrag. Heute wird er seiner Frau davon erzählen. 


12.6.2023
Wer mit wem?

 

Die Farben sind viel kräftiger als in Wirklichkeit. Zu bunt. Zu viel. Keine Ahnung, was in all diesen Heften steht. All die Scheidungen, Fast-Scheidungen, Seitensprünge, Babybilder auf den Titelseiten sind ein Riesengeschäft. Das ist ihr Neuer! Heimliches Drama… Ein Gefühl wie in einer Pornoecke: Stehenbleiben wäre irgendwie schmuddelig. Nichts interessiert die Leute mehr als in das Leben anderer Menschen hineinzuleuchten. Alles wird zur großen Oper. Was gedruckt wird, muss stimmen, sagen die Leser. Texte zum Anfassen haben ihre eigene Auto-rität. Der Klatsch zeigt auf, welches Verhalten erwünscht ist, welches geächtet, und wer wo steht in der Gesellschaft. Ein paar Schritte noch in den hinteren Teil des La-dens. Das Wettbüro. Auf dem großen Bildschirm verfolgen drei Männer das Pferderennen. Sie veranstalten große Meinungen. Eine kurze Begrüßung. Auch draußen vor der Türe kann man die Zusammenfassung des Tages hören. Geschichten von Liebe und Gesellschaft, wenn die guten Freundinnen nach ihrem Arbeitstag an den Plastiktischen noch einmal zueinanderfinden. Schwerlaster rollen vorüber. Eine Schwade billigen Parfums stößt gegen seine Nase.

Die Sonne brennt ihm ins Gesicht, doch die Mühe, die es kosten würde, aufzustehen und den Platz zu wechseln, kommt ihm unverhältnismäßig vor.


9.6.2023
Franz Marc

 

Irgendwo zwischen Herméville-en-Woëvre und Braquis, östlich von Verdun, erinnert am Straßenrand der D108 eine unauffällige Gedenktafel an den Expressionisten Franz Marc. Auf einem Erkundungsritt war er am hier im März 1916 durch einen Granatsplitter tödlich am Kopf verwundet worden. Noch zwei Tage davor schreibt er in einem Brief, er fühle sich ausgeruht, auch seine Nerven seien in einem guten Zustand, dass er sich nur darüber wundern könne. Die Dinge berührten ihn nicht, auch wenn er seit Tagen nichts anderes als Grauen sehe. Er, der die Bretagne, danach die Normandie besuchte, der einige Monate in Paris Station gemacht hatte, um dort in den Straßen zu zeichnen und im Louvre Gemälde zu studieren. Er trägt dieses Land in seinem Herzen. Seine Bilder drücken eine Utopie einer paradiesischen Welt aus. Expressive, symbolische Farben, eigene Farbgesetze. Blau ist das männliche Prinzip, gelb das weibliche. Rot muss von beiden überwunden werden. Mischt du das Rot mit Gelb, so gibt du dem Weiblichen eine sinnliche Gewalt. Das Blau stellt sich sofort neben das Orange. Die Farben lieben sich. Mischt du aber Blau und Gelb zu Grün, weckst zu Rot. Marc liebte das Tierische als Sinnbild der Ursprünglichkeit, Reinheit und Unschuld. Motive werden Tiere auf der Weide, am Waldrand, der Einklang mit der Natur. Heute grasen da, wo sein Leben endete, weiße Kühe. Sie kommen ans Gatter gelaufen. Weiße Kühe, keine blauen Pferde. 


15.4.2023 

Derrick 

 

Ein Waldweg, eine U-Bahnstation, das Büro eines Unternehmens, ein Gasthaus. Ein ermordeter junger Mann. Hat man die Familie schon befragt? TV-Oberinspektor Stephan Derrick taucht am Tatort auf. Gelegentlich hatte der Tote Besuch von einer älteren Dame. Sie hat ihm auch das Appartement überlassen. Verhöre in einem kleinen Büro. Mord aus Eifersucht. 

Derrick ist eine Kultfigur. Seine ausgeprägten Tränensäcke, seine Pilotenbrille, sein Lächeln. Seine Markenzeichen in späteren Jahren. Er trägt Maßanzüge, Krawatte mit perfekt sitzen-dem Knoten, einen hellen Trenchcoat, Lederschuhe, eine goldene Rolex. 

Auf den ersten Blick wirkt er nicht so wahnsinnig gefällig, wenn er Gespräche führt und sich ein Bild von der privaten Umgebung der Verdächtigen macht. Er ist vielleicht sogar spröde und etwas schwierig. Seine bedächtige Art, seine große Statur, seine spezielle Gangart – schließlich ist er doch galanter und einfühlsamer als vermutet. Derrick ist ein Fels in der Brandung. Er wirkt in allem so sicher. Sein Blick von oben scheint das Mittel zu sein, das ihm die Autorität verschafft, die ein Chef braucht. Einen Assistenten benötigt er nur, damit er dem Zuschauer seine Gedanken und schließlich die Lösung erzählen kann. Einen Assis-tenten, der zu ihm aufschaut. Der Gedanke, dass die Zukunft ihres Liebhabers nach ihrem eigenen Tod voller Ereignisse sein würde, von denen sie nie etwas erführe, gewissermaßen das Gegenstück, die Kehrseite ihrer Erinnerungen an die Zeit vor seiner Geburt. Und genau das haben Sie nicht ertragen. -  Sie erwarten sicherlich eine Reaktion von mir. – Sie haben die Frage erwartet, oder?   



14.4.2023
Erlebniswelt Mosel

 

Der Münsterberg gehört zu den Steillagen entlang der Mosel. Seit vielen Generationen wurde hier ausschließlich die Rebe Riesling gepflanzt. Direkt unter dem Felsen einer gigantischen Schieferwand startet die dreisitzige Monorackbahn, zwischen Rebzeilen schwingt sich die Schiene weit hinauf über den terrassierten Hang, bis zu einer alten Winzerhütte. Einst wurde dort oben die Mittagspause verbracht, nach der Arbeit im Hang noch ein Schoppen getrunken, die Aussicht genossen. Heute haben die Enkel die Hütte zu ihrem Domizil gemacht. Die Schnapsbrennerei wirft mehr ab als das mühsame Geschäft eines Winzers. Am Fuß des Berges fährt stündlich die Regionalbahn vorbei. Als rote Linie durchzieht sie das Flusstal. Güterzüge mit Graffitibotschaften, Hupsignale während der Befestigungsarbeiten am Hang, gemächli-ches Warten im Überholbahnhof. Schmale Ebenen von einfacher Ordnung. Der Fluss spricht zu den Herzen. Das Glitzern auf dem Wasser ist so stark, dass die Lichtreflexe von den Sportbooten kaum zu unterscheiden sind. Wenn die Wellen der Ausflugsdampfer die kleinen Paddelboote erreichen, brandet ein kurzes Aufschreien bis ans Ufer, manchmal bis oben hinauf. Manche Orte entstehen nur im Bleiben.

 


12.2.2023

Weltgefühl 

 

Ein Tag mit lauter angefangenen Gedanken. Er parkt den Wagen am Rand eines alten Forstweges, nur ein paar Baumreihen entfernt vom Verkehrsdröhnen der Autobahn, geht im Stadtwald spazieren, taucht unter, sondert sich ab von diesem kurzstreckenhaften Hin- und Her-Unterwegs-sein in der Geschäftswelt. Es liegt eine Strenge in den dichten, vertikalen Stämmen der Nadel-bäume. All die Schattierungen von Grün. Wo der Schatten hinfällt, wirken die massiven Tannen und Fichten fast schwarz. Während sich die Geräusche der Motoren und Reifen allmählich verlieren, bleiben andere Spuren abwesender Menschen: glatt durchgesägte Baumstümpfe, gefällte Stämme am Wegesrand, Zivilisationsmüll. Eine einzelne pelzige Mooshaube leuchtet in der letzten Sonne. Später steht er auf einer schmalen, einspurigen Autobahnbrücke. Er beobachtet den Straßenverkehr. Sein Denken zieht sich zurück. Die Kunst der Unbeweglichkeit. Unter ihm erscheint das weiße Dach des Reisebusses, der sich auch nach langem Hinterhersehen noch nicht weit entfernt hat. Die nahen Gebüsche und Gräser am Straßenrand werden zu einem eigenen Raum, einem unablässig zitternden, sich öffnenden, schließenden - ein ewiges Auf- und Abflimmern. Wenn die Sträucher schütter und das Laub an den Bäumen nicht mehr so dicht sind, entsteht der Eindruck eines Orkans. 



20.12.2022 

Berlin Warschauer Straße

 

Zigarettenkippen, Schnapsfläschchen, Papier… Was die Leute eben so wegwerfen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Der Wind treibt Plastikbecher und ein paar Prospekte vor einem Passanten her. Ein Passant kickt eine zusammengedrückte Getränkedose über den Geh-steig, bis sie ins Gebüsch schlittert. Da klebt ein vom Regen durchdrungenes, plattgetrete-nes Ahornblatt auf der Straße, umgeknickt, in der Form eines liegen gebliebenen Fisches. Alles ist Poesie. Sie trägt dazu bei, dass das Leben eine andere Form bekommt, eine Fär-bung, eine Melodie. Alles wird zu Sprache. Kein Erlebnis ohne Formulierung: die Akkordeon-töne in der
U-Bahn zwischen Jannowitzbrücke und Heinrich-Heine-Straße, das Geräuschetremolo des Kameraauslösers als ein Klappern von Straußenschnäbeln, ein Austausch von Blicken, ein Glitzern. Wer weiß denn vorher, wie sich die Ansichtskarte, die urplötzlich über den gesam-ten Bahnsteig wirbelt, in den Luftströmen verhalten wird? Später, als sie in den zwei Rich-tungen desselben U-Bahn-Schachts auseinanderfahren, war das der Augenblick der Augen-blicke. Es ist angenehm, wenn man in einer wildfremden Stadt etwas Nahes neben sich weiß. 


14.11.2022 

Rückblende 

Jeder weiß, dass während einer Rückblende das Spiel weiterläuft, man es aber nicht sieht, weil es nicht so sehenswert ist wie das, was in Zeitlupe noch einmal gezeigt wird. So könn-te es auch im Alltagsleben sein. Ist es aber nicht. Insofern hat die Welt im Fußballfernsehen eine gewisse Vervollkommnung erfahren.

Eine Katze sitzt auf dem Fenstersims der kleinen Modeboutique. Im La Parisienne wohnt in liebevoll angerichteten Kleinodien ein kleines Stück der guten alten Zeit. Madame erzählt von wunderbaren Kunstgenüssen, der Jardin de Luxembourg taucht auf, ein Gemälde im Orsay. Die Dinge nehmen im wechselnden Licht ihrer Worte ganz unterschiedliche Farben an. In den Schaufenstern lebt die  Pariser Szene, Picasso, Proust… Auf das feine Porzellan-geschirr hatte auch die große Catherine Deneuve auf dem Flohmarkt von Clignancourt ein Auge geworfen. Madame führt ihren Stift über die weiße, glänzende Fläche des Papiers. Dabei schlägt vielleicht ein Armreif auf das kleine Tischchen. Vielleicht trägt die Dame an diesem Tag ein massives Collier. Sie schreibt mit Sorge von der langen Rückfahrt aus Paris, von der Hoffnung sich bei günstigeren Temperaturen wieder zu sehen. Ihr Brief ist eine Zeitlupe, verlangsamt das Geschehen und trägt einen betörenden Duft in die Welt. [Je reviens…]

 

10.10.2022 

Die Wunde von Bern 

 

Eingemietet in einem Appartement im dritten oder vierten Stock eines Hochhauses in der Francia Utla 47a: Das ungarische Eigentümerpaar ist für ein paar Tage verreist. Sie hat Pralinen auf das Bett gelegt. Wir sehen vom Balkon aus unseren Wagen auf dem Parkplatz vor dem Haus stehen. An einem Sturmtag voll umgedrehter Schirme flüchten wir in eine Espressobar im kopfsteingepflasterten Areal der Oberstadt und dämmern an nierenförmi-gen Plastiktischchen in unseren Wintermänteln vor uns hin. Dort lesen wir stundenlang unbehelligt, trotz des lebhaften Wirbels, in mitgebrachten Büchern, und verstehen kein Wort der Unterhaltungen ringsum. Worte, deren Sinn man nicht über romanische, slawische oder germanische Verwandtschaften erschließen kann. Heroisches ist überall präsent, in Denk-mälern, Platzanlagen und Bauwerken. Jedermann ist nationalbewusst. 

Der heftige Wind und Regen, die jäh zur Seite sich neigenden Wasserstrahlen des Spring-brunnens besprühen die Passanten mit glitzerndem Staub. Abstrakte Schauminseln treiben im Bassin des Brunnens: Mit zunehmender Entfernung vom Wasserstrahl werden sie löch-rig, zerfransen und zerfließen schließlich. Irgendwo dazwischen Miró. 

2:3 – der Regen erinnert an Bern. Was das Schönste am Fußball ist? Es gibt immer ein nächstes Spiel, immer eine neue Saison. Es gibt immer Hoffnung, immer ein Morgen. Es fängt alles immer wieder an. 



8.9.2022

Avignon

Groß und ungeheuer steht er da. Der Palast bildete das Epizentrum einer überirdischen Macht. Vielleicht vor keinem anderen Gebäude Europas dieser Schauder. Breit und verschlossen wirkt der Papstpalast, mit wenigen und schmalen Spitzbogenfenstern, mit einem Tor, das trotz seiner Höhe klein erscheint im Verhältnis zum Ganzen. Selbst wenn sie vom hellen Sonnenlicht des Südens umglänzt sind, es drückt ein geheimnisvolles Schweigen auf diese Mauern, umgibt sie mit einer unbegreiflichen Macht. Man sieht es den Mauern an: Kaum etwas drang hinein, nichts heraus. 

Auch an diesen Wänden stehen irgendwelche Kritzeleien, dass einer eine liebt und mit einer anderen schlafen will, ich und du, oder plus oder Herz, und hundert Namen, du und ich, und Sprüche über die Welt. Obszönitäten. Bewegungen der Sonne auf den Steinplatten – immer gleiche Schatten von Türmen, Säulen, filigranen Eisenzäunen, die seit Generationen wiederkehren. Ein Spatz auf der Straße, überflogen von einem anderen Spatzen, duckt sich und zieht den Kopf ein. 

Schattenlos versinkt der Tag in einem Abend ohne Kühle. Kurz vor Mitternacht klackern eilig Absätze über den Vorplatz. Wenig später steigt ein Geruch von Sommerregen von den ausgetrockneten Straßen auf. Durch zersiedelte Stadtränder führen die Wege hinaus in die Provence.



11.8.2022
Mexican Girl 


Sie sitzt auf der abbröckelnden Bordsteinkante, stellt die Flasche Orangenlimonade neben sich auf den Asphalt und balanciert einen Schokoriegel auf den Knien. Eigentlich hat sie gar keine Lust auf etwas Süßes. Auf der anderen Straßenseite versinkt die Sonne allmählich zwischen den Häusern. Die Limoflasche zischt, als sie den Schraubverschluss öffnet. Dann hält vor ihr ein Linienbus. Silbern mit blauen Streifen. Zischend öffnen sich auch die Bustü-ren. Der Abend-bus kostet nichts. Sie geht an der Fahrerin vorbei, sagt kein Wort, sucht sich einen freien Platz. Das blaue Velourspolster hat in der Mitte einen Riss, aus dem gelber Schaumstoff herausquillt. Sie rutscht ans Fenster und findet es beruhigend, den Kopf gegen die Scheibe zu lehnen. Die Geschäfte hinter der trüben Scheibe haben bereits geschlossen, aber die Bars und Restaurants sind noch geöffnet. Zwei Jungs lehnen an einer Mauer, einer raucht. In der Scheibe erkennt sie das Spiegelbild ihrer eigenen Augen. Sie wendet den Blick ab.

Am Abend wählen sie wieder ihre Lieder aus: Mexican Girl, Oh Carol … Spät in der Nacht tanzen die Gäste vor der Musikbox über die freie Fläche, über der bunte Lichtflecken krei-sen, in stets sich wiederholenden Mustern, rot oder blau oder grün. Dann tritt eine Frau ein, umtanzt von diesen Lichtern, die bisweilen auf ihre Kleidung überspringen und sekunden-lang eine be-stimmte Stelle hervorholen…Ce qui est fascinante, c’est la présence constante de la feminité.



2.6.2022
San Bernardino

 

Zu Fuß? Käme man heute noch auf die Idee, einen der großen Alpenpässe aus eigener Kraft zu überschreiten? Einfach so? Vielleicht wäre es einen Versuch wert. Man entdeckte die Langsamkeit wieder. Man erlebte die Mühsal wieder, die viele andere schon vor Jahrhunder-ten auf sich genommen haben. Und man käme in den Genuss der Ankunft im Hospiz auf der Passhöhe. Man verstünde vielleicht auch, wie schön es sein kann, mitten in den Bergen auf Menschen zu treffen. Am 14. Mai 1800 überquerte Napoleon den Großen Sankt Bern-hard, auf einem Maultier. Ein Schild erinnert daran. 

Im Terrassencafé sitzt ein Mädchen, das eine Masse von Passfotos auf ihrem Oberschen-kel sortiert. Danach trägt sie Lippenstift auf und bindet sich ihre Jeansjacke um die Hüfte. Sie sitzt sehr selbstbewusst da, mit übergeschlagenem Bein und verschränkten Armen. Auf die Frage ihrer Freundin gibt sie lange keine Antwort. Derweil überquert ein Pärchen Händ-chen haltend die schmale Straße. Der Mann zeigt dabei bereits mit ausgestrecktem Arm an, wo man sich ein Plätzchen suchen sollte. Dort wo die Schneereste bis an den See herunter-reichen. 

Drüben, auf der anderen Seite der Landesgrenze, wird der Briefkasten erst am nächsten Tag geleert. Die Ansichtskarten quillen aus dem Einwurfschlitz. Bernard und Marie-Danièle schreiben an Madame Germaine Litzler Un petit tour, ce dimanche, au Grand-Saint-Bernard. Salutations de  2473 mètres d’altitude, du côté italien. 



28.5.2022
Drusus

 

Drusus, der Stiefsohn des Kaisers Augustus, ließ an der Stelle des heutigen Ortes, bei Rhein-kilometer 321, ein Kastell errichten. Der Rhein hat hier im Wind etwas Maritimes. Nicht die großen Kulissen wie Schaffhausen, Rüdesheim oder die Loreley. 

Ein strahlend sonniger Frühlingstag. Am Relais du Rhin wirbt ein altes Auslegeschild für elsässisches Bier. Das Weiß des Hauses, die ausgeblichenen, hellblauen Fensterläden, an denen die Farbe abblättert, ein Hauch einer griechischen Inselwelt. Wie Goethes Garten-haus in Weimar. Über die schulterhohen Kirschlorbeerhecken schaut im Rhythmus der Rheinfähre die Spitze der hochgestellten Zufahrtsschranke herüber. Die Tricolore flattert stolz, während eine Eidechse über die Terrasse huscht. Eisbecher tragen Namen wie Dame Blanche. 

Ein paar Steinwürfe vom Ufer entfernt liegt das Örtchen am Ende einer Baumallee. Vor dem Rathaus sind vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen noch Wahlplakate verblie-ben. Die Wähler können sich entscheiden zwischen NOUS TOUS und POUR TOUS LES FRANCAIS. 



19.5.2022

Zimmer frei

 

In so einer Schneekugel herrscht ewiger Winter. Die Flocken treiben in Zeitlupe durch die Landschaft, steigen wirbelnd vom Boden auf, zerstreuen sich und der türkisblaue Himmel wölbt sich wieder regungslos über die Landschaft. Eine halbe Umdrehung, und der Schnee tanzt. In so einer Kulisse stehen zwei ältere Paare auf dem Marktplatz eines kleinen Tiroler Dorfes. Dann gehen sie gemeinsam im knöchelhohen Schnee die paar Stufen der Friedhofs-treppe hinauf. Kunstvolle Eisenkreuze schauen zwischen den dicken Schneebuckeln hervor. Einer der Männer geht entschlossen auf einen Schneeschieber zu, der an die Wand des Geräteschuppens gelehnt ist. Er räumt einen schmalen Weg bis zur Kirchentüre frei.

Im Rücken der letzten Sitzreihe liegen Gesangbücher. Zweifarbig hängen die Lesebändchen zwischen den Seiten heraus. Von den Grabplatten in den Seitenschiffen bli-cken prunkvolle Herren in den Kirchenraum, überlebensgroß und in ritterlicher Haltung. Sie sind seit Hunderten von Jahren eng mit den Geschicken der Gegend verbunden. Jesus erwartet die römischen Soldaten. Er ist ganz allein am Ölberg, die Jünger sind weit weg im Schlaf. Dann kreist lautstark ein Helikopter am Himmel. 

Die Rettungshubschrauber gehören zu den Tiroler Dörfern wie streunende Katzen, die Schildchen an den Balkonen, Zimmer frei, Abendspaziergänge und die Bergkulisse. Und draußen, über den abschüssigen Marktplatz, schießt plötzlich ein Schlitten. Der Junge ruft einen Gruß herüber. An der Fernstraße unterhalb des Dorfes dringt aus einer Sporthalle der kristallklare Klang der kleinen weißen Tischtennisbälle und setzt sich ein Stück weit an der Straße fort. Obwohl es Januar ist, glaubt er sich später an Vogelgezwitscher zu erinnern. 



4.4.2022

Im grünen Salon 

 

Was sie antreibt? Sie möchte einmal dieses Gefühl haben, der Perfektion nahe zu sein. Der Perfektion in ihrer Welt. Das Sonnenlicht sickert herein in ihren bunten Laden. Baudelaires Blumen blühen zwischen den alten Nähmaschinen, Zuschneidetisch, Schneiderpuppe und aufgeschichteten Stoffballen. 

Eigentlich ist das sein Leben: sich bewusst nirgends wirklich richtig dazugehörig zu fühlen, Zuschauer zu sein, für ihn manchmal die schönste Form der Teilhabe. Eine alte Schultafel gibt einen Überblick über unzählige Handarbeitsstiche. Ein Hauch von Unterricht. Unfassbares Wissen. Ein Farbton zwischen Persian und Jade verbindet die Regale, Tische und Fensterbänke. Irgendwo dazwischen formen die Fadenspulen in den aufgereihten Gläsern einen Regenbogen. Die Farbe aus Tintengläsern der Sixties, ein Rest von Violett, spült in das The Rock Point Inn. Vor der Panoramascheibe schäumt das Meer. 

In einem grauen Nadelkissen warten feine Steck- und Nähnadeln mit bunten Köpfchen. Sie streben nach oben hin auseinander, wie das Abbild eines Urknalls. Eine Rose duftet in den Raum, als wäre sie dort Königin. Zwei Frauen, ein Sommertheater. Auf ihrem Selfie leuchten die Glieder ihres Pariser Colliers als ein silbernes Geflecht. 



23.3.2022

Bettgeflüster 

 

Die Abendsonne schien, und der Schatten des hölzernen Eingangstors legte sich als breit-gefächertes Streifenmuster über die Straße. Sie sitzt da in einem gepflasterten Innenhof. Wieder so ein Tag. Sie unterscheiden sich kaum noch voneinander, als verflüssigten sie sich in der sengenden Hitze und der tückischen Rückstrahlung. Die Hitze sticht und hämmert ge-radezu auf die Steine, den Asphalt. Mittags im Weinberg schlägt in der Sonne ab und an der Rebenduft ein wenig um, in den Geruch von Hafen, Deauville, ein wenig Yport. Manchmal bekommt der Tag so ein leichtes Gefälle und das Geräusch eines vorüberfahrenden Zuges dringt herauf. 

Les freins grincaient, le train s’est arrêté. Das Le castel. Am Bahnhofsvorplatz entfaltet sich die französische Provinz. Un autre pays. Il fouille dans ses poches. -  Avant qu’ils se sé-parent, ils vont faire une promenade ensemble. 

Nach dem Spaziergang leuchtet das Licht des Displays einsam in die Dunkelheit. Der Rhyth-mus ihrer Sätze bleibt leichtfüßig. Sie überlassen sich. Da ist plötzlich dieses Bild aus dem Film Ein Hauch von Nerz. Sie sieht vor sich Doris Day und Cary Grant, nebeneinander auf ei-nem geteilten Bildschirm. 

Aus der Kneipe im Erdgeschoss ein Torschuss nach dem anderen aus dem Handgelenk, je-weils eine einzige, mühelose Bewegung, und schon hallte er von der Kugel tief in der gegne-rischen Torhöhle, mit einem Widerhall hinaus über die Straße kreuz und quer durch das Nachtsommerregenrauschen hinauf an ihr Fenster. 



11.2.2022 

Voilà la famille Leroc 

 

Während Monsieur Leroc den lieben langen Tag au bureau verschleuderte, verbrachte Ma-dame ihre Zeit vorzugsweise mit dem Blättern in Modemagazinen und der anfallenden Hausarbeit. Doch auch Monique und Daniel führten ein eher übersichtliches Leben. Kaum von der école zu Hause, galt es sofort copains zu treffen und dann ab ins piscine. Die Lieblingsbeschäftigungen der beiden schienen jedoch jouer de ping-pong und vor allem écouter de musique pop. Egal ob im piscine, im chambre oder dans la discothèque. Das Aufregendste passierte jedoch Daniel, als er sich einmal – warum auch immer – in einem camion versteckt, der ihn schnurstracks nach Montpellier verfrachtete, wo ihn sein Vater mit dem voiture wieder abholen musste. Welcher Teufel Daniel da allerdings geritten hatte, blieb damals im Lehrmaterial genauso unberücksichtigt wie die Frage, ob Daniel und son père in Montpellier vielleicht sogar ordentlich einen drauf gemacht haben. Was mag wohl aus der Schulbuch-Familie und speziell aus den enfants geworden sein, anhand deren Alltagserlebnissen wir die Grundkenntnisse der französischen Sprache erwerben sollten? Haben Monique oder Daniel tatsächlich den Sprung in die Tischtennis-Weltelite geschafft? Arbeiten sie bei einem Radiosender? Ein großes Rätsel bleibt für immer unbeantwortet. 

 


1.1.2022
Klimawandel  

Die Abschlusskugeln an den Metallpfosten sind wie gemacht, um beim erzwungenen War-ten am Rand der mehrspurigen Umfahrungsstraße die Hand darauf zu stützen. Eine ältere Frau bleibt stehen, umschließt die eisernen Kettenglieder, sucht Halt. Die Scheinwerfer ei-nes entgegen kommenden Lastwagens erhellen die Umrisse ihrer Gestalt. Das Haar leuch-tet kurz wie ein Heiligenschein. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, wartet eine ganze Schulklasse in Begleitung ihrer Lehrkräfte ungeduldig auf das Umspringen der Ampel. Eini-ge Nachzügler mit halb gefüllten Papiertüten verraten, dass sie den Spätnachmittag im Schnellrestaurant verbracht haben. 

In der Abenddämmerung, wenn die Dinge im spärlichen Licht ihre Tagesfarben nach und nach verlieren, kommen sie sich näher und rücken aufeinander zu - in der Wahrnehmung wie auch auf der imaginären Skala von Farben. Nur das gelbe M strahlt unaufhörlich hinter ein paar Baumwipfeln hervor.

Sein Blick schweift über die vierspurige Straße, über die Kreuzung mit ihren großen Rich-tungsschildern und diese verworrenen aufblitzenden Lichtreflexe. Da wandert plötzlich ein Lichtstrahl über die Kugeln am Geländer. Jede von ihnen, der Form nach ein Globus, hat die Besonderheit, dass die obere Globuskuppe, die den Pol darstellt, abgeschabt ist und dass dort Schwärze herrscht als ob der Pol, der Nordpol, abgetaut sei: Klimawandel an der Kreuzung.  


29.12.2021
Val Senales

Nach dem Durchfahren einer Pfütze formen sich auf dem Asphalt in gleichmäßigen Abstän-den die Abdrücke der nassen Stellen des Reifens. Umleitungen, rote Ampeln, Blockabferti-gung auf der einzigen Straße hinein ins Tal addieren sich zu einer Reisezeit fernab der Anga-be auf dem Fahrplan. Eine Frau um die fünfzig hat ihre Arme zum Vordersitz ausgestreckt, um sich in den Kurven abzustützen. Ihr Silberarmband pendelt am Unterarm.

Karthaus - das Gewicht des topografischen Namens und die Freude, wenn sich der Punkt auf der Landkarte verwandelt in das Gefühl des Angekommen-Seins, führt uns ins Schnals-tal. Weit hinten, fast am Endpunkt, auf 1327 Metern über dem Meer, befinden sich die Reste der Anlage des Kartäuserklosters Allerengelsberg - mons omnium angelorum. Mittagspau-se auf einer Baustelle. Die Arbeiter liegen in grünen Hänge-matten zwischen den Baugerüs-ten. Manche sitzen im Schatten.

Da liegen Berge von Aushub. Als dieses Millionen Jahre alte Geröll noch Schlamm auf ei-nem Meeresgrund war, brach wohl gerade Gondwana auseinander. Die Landschaft bewahrt, was in ihr geschehen ist.

Versteckt in der Ringmauer der alten Anlage öffnet sich ein kleiner Raum mit Wandgemäl-den. Nur auf Knien ist von dort das Heilige Grab zu erreichen. Zwei Kerzenflammen umfla-ckern die Skulptur des toten Christus. Unheimliche Stille in dieser engen Nische. 



28.12.2021
Heiligenblut 

 

Mit dem Großglockner im Hintergrund bildet die hochgestreckte Pfarrkirche mit dem Nadel-helm eines der bekanntesten Fotomotive des Landes. Gotischer Alpinismus. Es war mit einer großen Auswahl zu rechnen. Wir hatten vieles schon gesehen. Ansichtskarten in den verschiedensten Formaten und Formen: kreisrund, Fische, Windmühlen, Wohnwägen, Klee-blätter… Vielfelder- oder Leporellokarten, mit beigefügtem Blumensamen oder als Schall-platte, mit Rillen zum Abspielen. Aber hier auf der kärtnerischen Seite des Großglockners, am Ausgangspunkt der Hochalpenstraße, steckte da unvermutet ein Kleinod in einem Kar-tenständer, das wir uns vielleicht einmal vorgestellt, aber niemals für möglich gehalten hat-ten: ein Ansichtskartenheft mit einer unglaublichen Besonderheit. Jede Karte war einzeln herauszutrennen, und als Erinnerung bleibt für den Absender ein kleines gebundenes Heft-chen zurück, mit den gleichen Motiven im Hochformat und der vorgedruckten Notiz auf der Rückseite: Dieses Motiv erhielt …. am  …  Zehn Ansichten von Heiligenblut für 49 Schilling 90. Und nur auf einer dieser Karten findet sich das Sakramentshäuschen mit dem Reliquien-gefäß, in dem der Hl. Briccius, versteckt in seiner Wade, das Heilige Blut von Konstantinopel bis an den Fuß des Großglockners gebracht haben soll.


27.12.2021
Jacquet-Droz

Allein die Anreise. Der Zug schlängelt sich durch die sommerlichen Alpen. Draußen spulen sich die alpine Bergpanoramen ab. Allein das hat schon etwas Romantisches. Dann Neu-châtel. Jacquet-Droz und ihre Mitarbeiter stellten hier 1773 drei Automaten vor, die bis heu-te erhalten sind und im Museum der Schönen Künste besichtigt werden können. Es handelt sich um einen Zeichner, einen Schreiber und eine Klavierspielerin. Die Puppen sind etwa 70 cm hoch. Durch einen Mechanismus mit auswechselbaren Scheiben kann der Zeichner ver-schiedene Motive anfertigen: ein Portrait von Louis XV mit seinem Hund Toutou, Louis XVI und Marie Antoinette sowie das Motiv eines von einem Schmetterling gezogenen Wagens. Ausgerüstet mit Papier, Feder und Tintenfass, kann der Schriftsteller einen beliebigen Text von bis zu 40 Zeichen schreiben. Dabei bewegt sich die Hand auf und ab, vor und zurück, rechts und links. Die Musikerin schlägt die Tasten einer Art Orgel mit Flötenklang an. Sie kann fünf verschiedene Stücke spielen, die eigens für sie komponiert wurden. Diese Ma-schinen lösten im Europa des 18. Jahrhunderts einen wahren Automatenboom aus. Immer lebensech-tere Maschinen wurden gebaut und einem staunenden Publikum vorgestellt. Eine unbekannte Dimension, eine Beschleunigung des Lebens bei gleichbleibender innerer Langsamkeit. Eine Schritt in eine neue Welt. Noch heute kann man jeden ersten und dritten Sonntagvormittag im Monat eine Vorführung der Jacquet-Droz-Automaten miterleben.


25.12.2021
Mondlandung

 

Die bunten Farben der Leuchtschriften und Reklamen, die rosiges und grünes und hellblau-es Licht verstreuen, strahlen zaghaft in die stille Abenddämmerung. An der Garderobe hat jemand seinen aufgespannten Regenschirm kopfüber aufgehängt. Da taucht in seinen Ge-danken das Bild des Mondautos auf. Die Mondlandung hat ihn Zeit seines Lebens beglei-tet, da er an dem Tag auf die Welt kam, an dem die Menschen zum ersten Mal ihren Fuß auf den Mond setzten. Erst Jahrzehnte danach habe er dann die Bilder der Mondlandung im Fernsehen gesehen. Die Begeisterung für die Mondlandung und die Raumfahrt fiel genau in die Beatles-Ära. Die Beatles waren gewissermaßen der Soundtrack zum Mondprogramm. Zu den Jahrestagen der Landung ist er bei den kleinen und großen Ausstellungen oft als Ehrengast eingeladen, posiert vor NASA-Plakaten, Modellen der Apollo 11-Raumkapsel, mit den unterschiedlichsten Erinnerungsstücken. Neil Armstrongs Fußabdruck im Mondstaub wird wohl Tausende von Jahren überdauern. Früher oder später wird vielleicht wieder ein-mal etwas passieren, das uneingeschränkt gut ist, das die Menschheit vor den Bildschir-men, und sei es nur für einen Moment, so vereint wie die erste Mondlandung.


22.12.2021
Passau

 

Auf einem Abstellgleis warten Waggons auf den jüngsten Tag. Das Stromabnahmegerät einer Lok, die gerade in den Bahnhof eingefahren ist, löst sich oben von den Drähten, sinkt in sich zusammen und richtet sich dann wieder auf, als ein seltsam urtümliches Sechs-eckgestänge. Wenige Minuten Aufenthalt. 

Da setzt sich der Zug im grünlichen Halbdunkel des düsteren Bahnsteigs, auf dem die Licht-höfe der Laternen ihr weißes, fahles Licht in die Nacht werfen, langsam wieder in Bewe-gung.  Nach sanfter Beschleunigung durchfährt er einen kurzen Tunnel, taucht wieder auf und erscheint kurz unter seinem Fenster im Hinterhof. Dann verschwindet die Bahn in der nächsten Röhre, unterquert das Wohnhaus. Jeder der Züge, der einige Sekunden später über die Flussbrücke ins Nachbarland hinüberfährt, musste tatsächlich unter seinem Zim-mer hindurchgefahren sein. Es liegt fast genau über der Einfahrt in die Röhre, die im Stadt-plan als leicht geschwungene, gestrichelte Linie eingezeichnet  ist. Das Holpern des Zuges über die Gleisnähte dringt bis an sein Fenster hinauf. Es ist ein sehr kleines Zimmer, nur ein paar Quadratmeter groß. 

Bei Dunkelheit kündigen drei Stirnlichter den Zug an. Das überhelle Wagenlicht, das an den Schachtwänden widerscheint, lässt für kurze Augenblicke eine nackte Felsstruktur hervor-schimmern. In den Waggons des Regionalzuges kündigen leuchtend gelbe Dreiecke, Vier-ecke, Halbkreise und andere geometrische Formen, zusammengesetzt zu einer Laufschrift, die nächste Haltestation an: Schärding

Der Zug wird zu einem leuchtenden Strich in der Nacht, metaphorisch zu einem Vektor, des-sen Zielort immer wieder in seinen Gedanken auftaucht. 



16.12.2021
Chlus

  

Das Prättigau beginnt bei der Chlus, einer überaus engen Stelle, wo sich die linke und rechte Talseite bis auf Steinwurfdistanz annähern. Die linke Seite wird mittels eines Tunnels pas-siert, daneben schlängeln sich die alte Straße und die Landquart hindurch. Aus der Strö-mung des Baches leuchten oft graue, rundgeschliffene Kiesel hervor, die von einer waag-rechten weißen Quarzschicht durchzogen sind. 

Ein paar Schwünge von Hochspannungsleitungen davon entfernt befindet sich beidseits der Straße eine Tankstelle. Eingeschlossen von an den Scheiben herabströmenden Wassern und aufgequollenen Bürsten sitzt ein Paar in einem Wagen in der Wasch-anlage. Ein Gefühl wie auf dem Meeresgrund. 

Auf der gegenüber liegenden Straßenseite steht an der Bushaltestelle ein Wartehäuschen aus massivem Holz. Es ist nicht wie üblich eines dieser nüchternen Schutzhäuschen mit Scheiben aus Plexiglas. Auch die Sitzbank, die zwei Personen Platz bietet, ist aus einem halben Baumstamm gefertigt. Zur Straße hin hängt da ein handgemaltes Wanderschild. Es zeigt einen kreisrunden, grünen Punk auf weißem Grund. Tatsächlich ist der Einstich des Zirkels zu sehen und beim genauen Hinsehen auch der Strich des Pinsels. 

Das Hupsignal des Postbusses wird zur Begleitmusik der Tage in Graubünden. Selbst in den entlegensten Winkeln ist es regelmäßig zu hören. Als die beiden später den Tankstellen-shop verlassen, schließt sich hinter ihnen lautlos die automatische Eingangstüre. Die zwei schwarzen Vögel auf dem Glas vereinen sich zu einem Paar. In der polierten Motorhaube eines Rolls Royce aus Zürich spiegelt sich neben dem Bergmassiv im Vorübergehen ihr Silberarmband. 

 

 

11.12.2021
Salzburg

 

Das Siegmundstor ist monumental. Es ist der Eingang in die Salzburger Altstadt; ein Fels-durchbruch, der die innere Stadt mit den Außenvierteln verbindet und sie gleichzeitig von ihnen trennt. Neben der überhohen Tunnelröhre für den Straßenverkehr, die Drähte der Ober-leitungsbusse finden an der Decke Platz, gibt es eine zweite Röhre, eine kleinere, für Fuß-gänger und Radfahrer. 

Der spätere Nobelpreisträger, der einst in dieser Stadt gelebt hat, betritt den Saal. Nur die ersten drei vier Stuhlreihen sind besetzt. Er schaut sich im Publikum um, auf der Suche nach einem bekannten Gesicht. In der Brusttasche seines Jacketts hat er einen Zweig mit Palmkätzchen gesteckt. Dann beginnt die Lesung. 

Vor den großen Scheiben des Café Bazar fahren in dichten Gruppen Personenwagen, Taxis, Lieferwagen, Busse, Motorräder, Mopeds vorbei, nur von seltenen, kurzen Pausen voneinan-der getrennt: das ferne Spiegelbild der Ampeln, die den Verkehr regeln. 

Die alte Burg liegt an diesem Nachmittag unter einer Gewitterwolke. Raubritterhaft, nicht festlich. Die Salzach, nicht breit und behäbig, sondern wie ein sauberer, grünlicher Forellen-bach. Und zwischen dem Wasserlauf und dem Burgberg breitet sich eine Ansammlung italienisierender Plätze, Paläste und Bürgerhäuser aus, eine Melodie wie aus dem Süden, eine österreichische Variation zu allem Römischen.

 

 

9.12.2021
Gegensätze


Die südlichen Hausfassaden werfen in den Mittagsstunden geometrische Schattenfelder in die Gassen der überbelichteten Altstadt. Anderswo breitet sich am Rand einer spiegelglei-chen Talsohle ein hell erleuchteter, fußballfeldgroßer Flachbau aus. An der Stirnseite des Daches steht in riesigen Lettern ein Name, ein paar Buchstaben, vielfach wiederholt auf den Planen der Transporter, die in Reih und Glied neben dem Gebäude parken. Im Licht dahinter, dicht bewaldet, beginnt wie eine Wand der angrenzende schroffe Berghang. 

Goethe und Schiller waren beides: Hochkonjunktur und Sternstunde der deutschen Literatur, aber gleichzeitig auch der Schlussakt eines außergewöhnlichen Planetentanzes. Ein monu-mentales Denkmal zeigt sie nebeneinander stehend. Da erstaunt es, in Schillers ehemali-gem Wohnhaus ein hölzernes Tintenfass aus seinem Privatbesitz anzutreffen, das auf ei-nem Schildchen als typisch für die Goethezeit beschrieben wird.

Überall sind Gegensätze zu finden. Manchmal offensichtlich, manchmal eher verschwom-men, überbetont, missachtet. Gegensätze machen das Leben übersichtlicher, verständlicher und schwieriger. Früher war die Welt klarer strukturiert, Zugehörigkeiten fanden sich schnel-ler: Geha oder Pelikan, Adidas oder Puma, Gitanes oder Gauloises, Mercedes oder BMW.  

     Aber erst unmittelbar nach dem Besuch der mittelalterlichen Bibeln in den abgedunkel-ten Räumen des Gutenbergmuseums erschließt sich beim Betreten eines Handyshops das Wort Gegensatz in seiner ganzen Tiefe, so als hätte man es vorher nie richtig verstanden.

 

8.12.2021
An der weißen Linie

  

Beglückend, wie an einer Schnur gezogen durch die Landschaft zu gleiten, entlang der wei-ßen Linie am Fahrbahnrand. Auf dem Rad weilt man sozusagen wie in einem Kokon, phy-sisch wie psychisch, unansprechbar. Auch das Rauschen des Fahrtwindes sorgt für eine gewisse Hermetik. So wird eine Runde mit der Rennmaschine zu weit mehr als nur zu ei-nem Landschaftserlebnis.

Manchmal, in einer Reihe eng hintereinander, im Gefühl des Windschattens, rast bei un-unterbrochener Fahrradhöchstgeschwindigkeit die mediterrane Flora an uns vorbei. 

Einer überholenden Motorradfahrerin fällt der Reflexpunkt ihres Rückspiegels auf ihr Schlüsselbein. Das Aufheulen zweier Motorräder vermischt sich mit dem Duft der Blumen am Straßenrand. Beim Durchfahren mancher Ortsmitte streichelt die Sonne über die Pflas-tersteine. 

Der Rennradfahrer kennt den Straßenbelag genau. Auf mancher Asphaltdecke gibt es diese schwarzen Linien, Ausbesserungen in Form von Schneckenschleimspuren, die im grellen Sonnenlicht glänzen. An der Grenze von Unter- und Mittelfranken, kurz bevor man die Ab-zweigung nach Ziegenbach erreicht, wechselt der Fahrbahnbelag – ein kurzer Ruck wäh-rend des sanftes Gefälles.

Die langsame Vorüberfahrt eines Wagens… Ein gemütlicher, rhythmischer Takt. Ein kurzer mechanischer Widerstand, bis der Hebel nach unten gedrückt ist. Beim Durchfahren des Gewerbegebietes schlägt dann der Blinker orangefarbene Flächen auf die Hausfassaden.



28.11.2021

Sechsundvierzig Sekunden 

 

Er wartete, sah auf die Bahnhofsuhr. Einundvierzig. Eine Verspätung ist nicht angezeigt, das Signal längst auf Grün umgesprungen. Es kann nicht mehr lange dauern. Ein paar Schritte noch. Im Rücken die Stelle am Ende des Gleises, an der jeden Augenblick der doppelstöcki-ge Regionalexpress auftauchen musste. Vielleicht würde er den roten Punkt am Horizont bereits sehen können, wenn er sich wieder umdrehte. 

An den schlichten Eisenstäben des Geländers sind seit Monaten immer die gleichen Fahr-räder angekettet, manche inzwischen ohne Vorderrad, Klingel oder Dynamo, mit ausgeleier-tem Gepäcksträger oder verbogenen Schutzblechen. Und mittendrin doch der Rahmen ei-nes Rennrads in unverwüstlichem Bianchi-Celeste. 

Fußballfans haben auf der roten Sandsteinfassade des Bahnhofgebäudes Aufkleber hinter-lassen und mit Kreide den Namen ihres Vereins angebracht. Aus der Gegenrichtung rast noch ein Güterzug heran. Lärm und eisiger Wind dringen herüber. Die Container tragen aus-ländische Aufschriften. Sekunden nach der Durchfahrt haben die Blümchen und Gräser zwi-schen den Gleisen ihre Gelassenheit wiedererlangt. 

Dann endlich. Da ist er. Der Zug wird in unser Sichtfeld gespült. Noch liegt die Bahn leicht geneigt in der Kurve, bevor sie sich aufrichten wird, um die letzten Meter von den Blicken der Wartenden eingeholt zu werden. Der Zug hat das Mittelgebirge hinter sich gelassen. Die Einsamkeit der Wälder, die dunkle Macht der Bergrücken, die man im Sommer leicht über-sieht. Gerade im Winter wird das Gebirge zu einer Trennlinie. 

Vom Auftauchen des Zuges am Horizont bis er dann mit einem kleinen Ruck am Bahnsteig eins anhalten wird, dauert es genau 46 Sekunden. 



18.11.2021

Finstermünz 


Die Geschichte beginnt in Mariazell. Dort schreibt eine Dame in ihrem Hotelzimmer der frü-hen 70er Jahre eine Ansichtskarte an eine Freundin. Sie tut das auf einer Reiseschreibma-schine. Das Motiv zeigt mehrere Ansichten der Basilika, darunter auch das alles überstrah-lende Gnadenbild. Ihre Nachricht aus dem Wallfahrtsort scheint keinen Aufschub zu erlau-ben: Gestern habe ich dir durch die Creditanstalt die restlichen 72,50 überweisen lassen (Hannelore ist in dieser Bank angestellt). So schreibt sie. Die letzte Zeile ist ihr verrutscht. Dann frankiert sie die Karte mit zwei Briefmarken zu 2 Schillingen aus der Serie Schönes Österreich. Darauf zu sehen ist die alte römische Inn-brücke bei Finstermünz.

Diese Karte nun wird viele Jahre später zum Anlass einer Reise zu dieser alten Grenzanla-ge auf der Via Claudia Augusta. Auf dem Weg dorthin sitzen wir, kurz unterhalb der Re-schenpasshöhe, in einer Espressobar, mit der ganzen Welt vernetzt durch das Rumpeln und Quietschen der Laster draußen auf der Straße. Vor der Kulisse der majestätischen Wald-hänge ist ein Transporter abgestellt – die matisseblaue Plane mit weißer Aufschrift vollendet ein schönes Gemälde.

Am einst mondänen Alpenhotel Hochfinstermünz an der Reschenstraße verklingen gerade die letzten Zwischentöne der k.u.k.-Zeit. Bis auf halbe Höhe der Felswände trägt der Wind die Motorengeräusche hinunter in die Innschlucht, bevor sie sich mit dem Tosen des Wassers vermengen und ersticken. Finstermünz – die geballte Kraft einer eigenen Sphäre. 



4.9.2021

Going am Wilden Kaiser - ein Filmprojekt

Sie wandern an einem Gebirgsbach entlang. Dort, wo er nicht tief ist, sogar im Wasser. Die zwei kleinen Kinder hinten auf dem Rücken der Eltern dösen vor sich hin. Das Wandern durch das seichte Wasser, so ein Waten, kennt er aus der Kindheit. SCHNITT  Mit seinem Vater hat er in den Bächen Wurzeln gesucht, die sie dann an einen Holzschnitzer weiterge-geben haben. Frösche, Steine, eine Faszination. SCHNITT  Die rund geschliffenen Felsen und Steine liegen manchmal dicht gedrängt auf Inseln, Sand- und Kieselbänken, und am Uferrand. Neben dem Wasserlauf mal große Bäume, mal Wiesen, mal ein paar alte Bauern-häuser. SCHWENK DER KAMERA  Manchmal laufen sie gegen die Strömung an, bergauf, der Bach in einer enger werdenden Kerbe. An den Böschungen Wildwuchs, oben dann etwas Licht und die Ausläufer der Heuwiesen. SCHNITT (Radfahrerperspektive)  Manchmal kann man auch weiter in die Ferne schauen. Die Berge nur links und rechts. Wenn es durch kleine Dörfer geht, ist das Wasser meist zu tief. Als der Vater einen Moment stehen bleibt, schlägt das Kind die Augen auf und sieht etwas, für einen Sekundenbruchteil vielleicht, etwas Schö-nes, das ihn sein Leben lang nicht mehr verlässt: einen Traktor, eine Kuh, einen Heuschober. SCHNITT  (Das Kind erzählt.)  Einmal habe ich in der Kitzbüheler Ache ein Modellauto ge-funden, einen Renault 4, der vom langen Liegen im Wasser seine Farbe schon verloren hat-te. SCHNITT  Und genau das war es auch, was für ihn immer den stärksten Eindruck des Ankommens in Tirol oder der Heimkehr machte, das Gehen in den Bächen. Während sie beide so dahin liefen, holte er aus zum Werfen, mit einem unterwegs aufgehobenen Stein-chen. Den kleinsten Anlass benutzte er zum Verzögern. Gab es das: Energiesammeln im Verzögern? 



10.8.2021

Grüße von unterwegs

Tongeren, die Kathedrale von Metz, die Dreiflüssestadt Passau, Kufstein, natürlich Paris. Luftbilder und Mehrbildansichtskarten. Grüße aus Mespelbrunn. Auf der Karte lässt sich ein Fenster öffnen und ein Leporello mit Miniaturansichten des Schlosses herausziehen. In Budweis bildeten drei abtrennbare Dias einen Teil der Karte. Das alles liegt viele Jahre zu-rück. 

Gewöhnlich geschieht das Schreiben einer Ansichtskarte nur während einer Sommerreise. Und doch ist es eine ernste Aufgabe. Wir setzen uns dazu meist in ein Straßencafé. Das Schreiben gelingt ganz anders, wenn man nebenher eine Tasse Kaffee genießt. Wegen des Poststempels ist es wichtig die Karte noch in ihrem Heimatort einzuwerfen. Im Café wird der Tisch zum Büro. In den Augen der anderen Gäste mag es seltsam aussehen, die vorrä-tigen Briefmarken aus einem kleinen Album, in Grenzgebieten auch aus mehreren Ländern, vorbereitete Adressaufkleber, das Tintenglas, die Wachsamkeit. Gemeinsames Schweigen. Das Unterwegssein ist schön, aber auch anstrengend. 

Für den Empfänger wird die Ansichtskarte zu einem Zusammenspiel von Motiv, Briefmarke, Poststempel, Text und Schriftbild, zu einem Zeichen der Wertschätzung. Eine Spur. Ein Stück Vergangenheit. Es ist nie nur ein banaler Gruß zu lesen, ohne Bezug oder Erlebnis. Der Text kann Jahre überdauern. Manchmal lässt sich aus einem gesammelten Kartenwerk ein ganzes Leben wieder sichtbar machen.

Mit den richtigen Worten stellt sich das Wesentliche einer Reise ein. Eine Orientierung. In-nere Zufriedenheit vor dem Absenden. Poesie. Noch einmal nimmt man kurz den Füller in die Hand und findet sich dabei selbst.



12.6.2021

Sperrstunde 

 

Mitte Juni, Court Philippe Chartrier. Auf der einen Seite der Perfektionist, der seine Scharte vom letzten Jahr ausmerzen möchte, auf der anderen der Sandplatzkönig. Le Roi Soleil. Djokovic gegen Nadal. Eine besondere Intensität, schon wenn die beiden den Platz betre-ten. 

Jeder Schritt, jeder Ballwechsel wirbelt den roten Sand auf. Bis Nadal beim Aufschlag alle seine Rituale durchgespielt hat, dauert es - eine Geduldsprobe, auch für den Returnspieler. Er kann dir genau sagen, wie lange die Rotphase ist, wenn du mit ihm an der Ampel stehst, so ein Timing hat Nadal inzwischen beim Aufschlag. Ein Spieler, der bei allen Breakchancen gegen sich einen hervorragenden ersten Aufschlag reinsetzt. Ein Entfesselungskünstler. 

Beide beschweren sich zwischen den Ballwechseln bei der Schiedsrichterin. Da sei zu viel Sand auf dem Platz und gerade an der T-Linie versprängen zu viele Bälle. Auf der anderen Seite Diskussionen um das Zeitlimit beim Aufschlag. Es stört, immer die Uhr im Rücken zu haben. 

Der Herausforderer bläst die Backen auf, sein Spiel wird schnörkelloser, er findet seine Linie. Er hat einen Plan. Wird ruhiger. Aufgeräumter. Ein Charaktertest. Ich habe die Augen von Herrn Djokovic gerade in der Zeitlupe angeschaut... Der andere gerät in die Risikozone. Ist ein Ball zu kurz, gerät er in die Mühle. Es zeigt sich eine ganz klare Tendenz. Auch Nadal spürt, dass der andere die Oberhand gewinnt. Seine Unzufriedenheit ist ihm im Gesicht ab-zulesen. Er steht so weit hinten. Da sind die Wege so weit. Wege, die sich immer weniger lohnen. Der eine wickelt die Bälle ein, der andere bekommt die Schleife immer weniger auf. Rahmen! Ein Rahmen auch um diesen Satz. 

Es ist spät am Abend. Sperrstunde. Ab elf Uhr soll das Spiel ohne Publikum weitergehen. Corona-Bestimmungen in Frankreich. Wenn die Zuschauer gehen müssen, das gibt die Zweite Französische Revolution. Dann die unerwartete Ansage: Alle dürfen bleiben. Am En-de wird der Herausforderer alle Statistiken widerlegt haben. Nadal hat verloren. Gut mög-lich, dass sich an diesem Abend ein paar Politiker mit ihrer populären Entscheidung ihre Wiederwahl gesichert haben. Paris silence. 



8.4.2021

Panini 

 

Wochen vor dem Beginn einer Fußballwelt- oder -europameisterschaft gibt es plötzlich diesen Augenblick. Irgendwo in einem Schreibwarenladen, in einem Kiosk oder sogar in einem Supermarkt werden die ersten Panini-Sticker angeboten. Schon das leere Sammel-album weckt wieder dieses besondere Gefühl. 

Es gibt wie immer die glitzernden Wappensticker aller teilnehmenden Mannschaften, die Teamfotos, manchmal aus zwei oder sogar vier Klebebildern zusammengesetzt, Stadien, Maskottchen und natürlich die Spielerporträts mit Angaben zum Verein, zu Größe und Gewicht. Hochformat, Querformat, manchmal auch geteilte Sticker mit zwei Spielern. Früher haben wir alle gesammelt. Wir haben Listen geschrieben mit den Nummern der Sticker, die uns noch fehlten, haben Doppelte getauscht. Manche Spieler wie Zoff, Ronaldo, Kroos, Benzema, Maradona begleiteten uns viele Jahre, manches blieb einmalig und exo-tisch: Sammelbilder mit Spielern aus Trinidad und Tobago, Ägypten oder auch Nordmaze-donien. Vor dem Einkleben werden die Sticker sortiert, ihre Nummer gewissenhaft auf der Fehlliste durchgestrichen. Äußerste Vorsicht beim Abziehen des Bildes von der Trägerfolie und beim Einkleben, damit das Bild möglichst millimetergenau platziert ist. Auf dem Tisch häufen sich die leeren, glitzernden Tütchen. 

Das Foto zeigt uns gegenübersitzend, unter einem weit aufgespannten Sonnenschirm, an einem kleinen Tischchen. Es ist symmetrisch aufgebaut. Wir schauen beide über die Schul-ter in die Kamera, die Unterarme liegen auf der Armlehne des Campingstuhls. Gläser, Tas-sen, Handys, Zeitschriften sind auf dem Tisch zwischen uns zu erkennen – und ein Stapel mit Fußballbildern. In der Eingangstüre des Tankstellenshops steht ein Mann, der lächelt. Die Doppelten werden sofort im Internet angeboten. Alles ist ein bisschen mehr zu einem Geschäft geworden. 

Die gute Nachricht: Manches ist auch geblieben wie früher. Der erste Krokus, der die kom-mende Jahreszeit anstimmt. Dieses Frühlingsgefühl Wochen vor Beginn des Turniers, die-ses immer gleiche Geräusch beim Aufreißen der Tütchen. 


 

10.10.2020

Was der Pfeffer für die Suppe 

 

Er sammelt Blechdosen, Zigaretten- und Spardosen aus der Kaiserzeit. In Vitrinen finden sich da mehrere Hundert Stück, teilweise mit farbenprächtigen Lithografien, von berühmten Künstlern entworfen. Medaillons der Mitglieder der Adelsfamilien. Vielleicht ist es die größ-te Sammlung ihrer Art im deutschsprachigen Raum. Manche Dosen werden im hohen drei-stelligen Bereich gehandelt. Und nun zu dem Foto: ein besonderes Sammelgebiet. Es han-delt sich um Spardosen und aus der Zeit von 1914-18, angefertigt in der Form von Flieger-bomben. Manchmal mit Propaganda-Aufschriften wie Was der Pfeffer für die Suppe ist die Bombe für die Truppe, Ohne Salz schmeckt keine Suppe, ohne Brummer siegt keine Truppe, der Angabe von Schlachtorten, Longwy, Lüttich oder Kowno, und aufgetragenen Wappen. Die Kriegseuphorie der damaligen Zeit ist zu spüren. In jedem Döschen liegt ein handge-schriebenes Zettelchen mit der Angabe des ungefähren Wertes des Objekts, der datierten Herkunft und allen vorhandenen Informationen für die Nachwelt. Manche der Kriegsspar-dosen sind so originell, dass ein Soldatenlied erklingt, wenn eine Münze eingeworfen wird. Da wird eine vergangene Zeit wieder sichtbar. Vergessen ist normal. Wir alle tun es ständig. Es geschieht lautlos und unbemerkt. Erinnern dagegen bleibt die Ausnahme. Eine Aufleh-nung gegen den Lauf der Zeit.6.9.

23.9.2020

Der zweite Streich 

 

Eines dieser Bäckerei-Cafés in einem Supermarkt. Zur Mittagszeit hat sich eine Warte-schlange gebildet. Ein Espresso, bitte. Italien ist ihm eher fremd. Aber Triest wäre möglich. Auch wegen dieses Joseph Fouché, mit seiner vollkommenen Abneigung sich unwiderruf-lich zu binden. Diesem ewigen charakterlosen Schweiger ohne Leidenschaften. Das ließ ihn vieles überleben, während andere aus der Geschichte verschwunden sind. Kennst du seine Geschichte?
Draußen ist es kalt. Scharfer Wind. Etwas über null Grad. Der Kunde hat sich endlich ent-schieden. Eine große Portion Pommes aus der heißen Theke. Zum Mitnehmen. Die Verkäu-ferin füllt die Ware in eine Warmhaltetüte mit der Aufschrift Knusprige Hähnchen. Dem Kun-den fällt die Abbildung auf der Tüte ins Auge. Max und Moritz. Die beiden Lausbuben ste-hen auf dem Dach von Witwe Boltes Haus. Mit schelmischem Gesichtsausdruck, voller Schadenfreude, sehen sie durch den Schornstein die Hähnchen in der Pfanne liegen – und ziehen sie mit ihrer Angel nach oben. Spitz kann das Unheil nicht aufhalten. Macht zwei Euro. Niemand hat nur annähernd so einen freudigen Blick wie die zwei Buben. Dann das Wechselgeld. 

Draußen vor der Eingangstüre ist ein Hund am Fahrradständer angebunden. Er beginnt zu bellen, als seine empfindsame Nase den Duft aufnimmt. Ein Bild aus dem vielleicht ersten Comic der Welt. Wilhelm, nun ist es vorbei mit der Übeltäterei. 


20.3.2020
Reisebegleiter von einst 

 

Da hielt er diese waldgrüne Schillingnote wieder in der Hand. Auf der Rückseite das Bauern-haus. Viel größer als in der Erinnerung.Viel größer auch als der Heustadel hinterm Haus. Sein altes Holz strahlte abends die Hitze ab, die er während des langen Sommertages auf-gesogen hatte. Ein wunderbarer Duft, der sich in den Geruch des Heus mischte. Gewöhnlich verwahrte die Mutter die österreichischen Banknoten getrennt von den heimatlichen in ei-nem schmalen Mäppchen mit Reißverschluss in ihrer Tasche, immer darauf bedacht, erst die Münzen wieder auszugeben und die Geldscheine vorerst nicht anzutasten. Aber natür-lich. Die Münzen. Auch heute noch trägt er in der Hosentasche manchmal eine davon. Die-ses Edelweiß, den Reiter in der Levade in der Spanischen Hofreitschule, den Kopf einer Wa-chauerin mit Goldhaube. So friedliche Bilder. Und die Ziffern der Werteingabe so einpräg-sam schön, dass sie es wagen durften, in die eigene Schrift aufgenommen zu werden. Zu dem 100er brauchte es noch einen von den kleinen, braunen Geldscheinen. 20 Schillinge. Die Umrechnungstabelle, die der Bankangestellte stets mit den umgetauschten Banknoten ins Kuvert schob, nicht ohne eine schöne Reise zu wünschen, gibt einen Gegenwert von 2,88 DM an. Die Abbildung zeigt die Bahnlinie über den Semmering, klar zu erkennen eines der talüberspannenden Viadukte. Die Strecke über dieses Bergmassiv gilt als eine Meister-leistung des Brücken- und Tunnelbaus. Der Scheitelpunktbahnhof auf einer Seehöhe von 896,020 Metern, unweit der niederösterreichisch-steierischen Landesgrenze, inmitten eines waldreichen, klimatisch besonders begünstigten Höhenortes… Sommerfrische für die Wie-ner. Alles klingt so weit weg. Was gäbe man dafür? 120 Schillinge also, das sind zweimal Kaffee und Kuchen. Im Ritterhof. In einem ganz anderen Landesteil. In Tirol.